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13. Nov 2019 10

Historie und Histörchen zum Mauerfall: ''Da, die Tintenpisser!''

Die Sache war riskant. Denn die Chance, von der Stasi hops genommen zu werden, war hoch. Mein Auftrag lautete: Fahr’ nach Ost-Berlin, schnapp dir einen Taxifahrer, lass dich von ihm durch die Stadt kutschieren, frag' ihn nach seinem Leben in der DDR aus und schreib’s auf. Wir waren 20 „stern“-Reporter, je zehn Schreiber und zehn Fotografen, die sich am 9. November 1989 als Zweierteams aufmachten, die Stimmungslage in der anderen deutschen Republik einzufangen. Denn nach monatelangen massiven Bürgerprotesten konnte es nicht mehr lange dauern, bis der Sozialismuskessel überkochen musste.
Darüber wollten wir aus erster Hand berichten. Dass die Mauer ausgerechnet in der Nacht fallen würde, hofften wir zwar, aber rechneten nicht damit. Es hätte ja auch sein können, dass der Obergenosse Erich Honecker am selben Abend im DDR-Fernsehen verkündet: „So, die Demokratie-Übung ist vorbei.“ Dann wäre es nix mit Reporterglück gewesen, sondern wir wären wohl in einen Stasiknast gewandert.
Kurz bevor wir am 9. November in Hamburg losgefahren sind, warnte mich jemand, dass insbesondere in Ost-Berlin das Risiko groß sei, an einen Stasi-Mann als Taxifahrer zu geraten. Meinem Fotografen Jürgen Gebhardt und mir wurde zwar mulmig, aber wir verdrängten das. Bis Berlin waren es noch ein paar Stunden. Zunächst mussten wir erst einmal über die innerdeutsche Grenze kommen. Kontrollstelle Gudow/Zarrentin an der Autobahn 24, etwa 60 Kilometer östlich von Hamburg. Das erste Mal Herzklopfen. Wir rollten in unserem Miet-Passat vor zum Schlagbaum und gaben unsere Pässe ab. Unerwartet rasch kam ein Grenzer zu uns und fragte, was wir in der Deutschen Demokratischen Republik wollten. „Wir wollen uns Berlin ansehen“, antworteten wir.
Grenzübergang Bornholmer Straße am 10. November 1989.  Foto: Auto-Medienportal.Net/Wikipedia

Grenzübergang Bornholmer Straße am 10. November 1989. Foto: Auto-Medienportal.Net/Wikipedia

Weder Hotel noch Reiseroute interessierten den Grenzer. Mich fragte er allerdings nach meinem Beruf. „Tennistrainer“, antwortete ich. Der Uniformierte sah mir in die Augen. Ich war sicher, er glaubte mir kein Wort. Einen Moment später gab er uns die Pässe zurück und wünschte „eine schöne Zeit in der Hauptstadt“. Hatten die Grenzsoldaten schon die Anweisung von oben, die Einreise locker zu handhaben? Seltsam war auch, dass wir keine D-Mark in Ost-Mark umtauschen mussten, was zu normalen DDR-Zeiten üblich war.
Die nächste spannende Situation gab es beim Einchecken im Hotel Metropol in Ost-Berlin direkt am Grenzübergang Friedrichstraße. Dort hatten wir Zimmer reserviert. Die Atmosphäre war seltsam. Rings um uns standen merkwürdige Leute in Ecken oder an Säulen gelehnt. Wir fühlten uns scharf beobachtet und als Wessis enttarnt. Ich rechnete damit, dass uns spätestens beim Aussteigen aus dem Hotelaufzug ein Stasi-Team in Empfang nehmen und abführen würde. Die Tür ging auf, kein Mensch erwartete uns.
Kurz nachdem wir unsere Zimmer bezogen hatten, kam die Nagelprobe: Wir mussten wieder runter und einen Taxifahrer für die Reportage finden. Ich hatte 800 Westmark in Hundertern bei mir, die ich dem Taxifahrer dann Schein für Schein als Honorar dafür geben wollte, sobald er über sein Leben in der DDR plaudert. Nachdem ich mit dem Fotografen die Hotel-Lobby verlassen hatte, gingen wir langsam auf den Taxistand direkt vor dem Gebäude zu. Uns bot sich ein merkwürdiges Bild, das erneut ein mulmiges Gefühl erzeugte: Links stand ein einzelner Wagen, dann klaffte eine etwa 30 Meter lange Lücke, rechts parkten dann mehrere Taxen. Wir zögerten, blieben stehen und fragten uns, ob man Stasi-Leute erkennen kann?
Wir schauten die Fahrer der Wagen auf der rechten Seite an, die zumeist draußen standen, klönten, rauchten und uns musterten. Spontan sagte ich zu Jürgen: „Los, wir nehmen den“, und zeigte auf den einzelnen Wagen links. Der Fahrer saß drin. Ich weiß noch genau, was ich mich in dem Moment gefragt habe: Ist das ein Zeichen dafür, dass er nicht bei der Stasi ist? Will er nicht mit den Typen rechts zusammenstehen, weil er weiß, dass das die Schnüffler sind? Die Fahrertür des klobigen und mir unbekannten Autotyps öffnete sich. Raus sprang ein drahtiger, relativ kleiner Mann, der uns mit dem Satz begrüßte: „Kommen Sie zu mir, denen dort hinten ist nicht zu trauen.“ Dabei deutete er mit einer Kopfbewegung auf die Kerle rechts.
Erstaunt und schweigend stiegen wir ein und blickten uns ungläubig an. Ist das eine falsche Fährte und sind vielleicht die anderen statt seiner sauber? Wir sagten sofort, dass wir Westdeutsche sind und baten ihn zunächst, mit uns eine Tour zu verschiedenen Sehenswürdigkeiten Ost-Berlins zu unternehmen. Als ich nach etwa 20 Minuten Fahrt und harmlosem Geplänkel nach der Stimmungslage der eingemauerten Nation fragte, fuhr parallel zu uns ein dunkelblauer extra langer Staats-Volvo mit schwarzen Seitenscheiben zügig vorbei. Statt meine Frage zu beantworten zeigte unser Fahrer auf den Volvo und schimpfte: „Da sitzen die Tintenpisser drin.“ Er meinte die Parteibonzen, die Bürohengste.
GAZ-21 Wolga.  Foto: Auto-Medienportal.Net/Wikipedia

GAZ-21 Wolga. Foto: Auto-Medienportal.Net/Wikipedia

Seinen kernigen Spruch, der ziemlich rebellisch rüberkam, nahm ich zum Anlass, unsere Tarnung aufzugeben. Ich sagte ihm, wer wir sind und was wir machen wollen. Er antwortete mit einem erstaunten „Aha“, drehte sich für einen Moment zu uns rum und plauderte sofort los, als hätte er darauf gewartet, sich endlich das jahrzehntelange Eingesperrtsein von der Seele reden zu können: „Ich heiße Peter Dohm und erzähle Ihnen gerne alles, was Sie wissen wollen.“
Wir fuhren in seinem Funktaxi Nr. 338, ein Auto der russischen Marke Wolga, gerade auf der breiten Leninallee Richtung Stadtmitte, als Dohm nach links auf mehrere große Betonhallen deutete und sagte: „Det wird et bald nich mehr jeben. Dort drinnen, wa, lagern nur Möbel für die Bonzen.“ Er hoffte, dass es denen jetzt an den Kragen geht. Zum ersten Mal, so glaubte der damals 47jährige fest, „det nun allet anders wird“. Ab und an steckte ich ihm einen Hunderter zu, der jedesmal sofort in seiner rechten Jackentasche verschwand. Aus Dankbarkeit über den Westgeldsegen lud er uns schließlich am späten Nachmittag zu sich nach Hause zu Kaffee und Kuchen ein. Er wohnte in einer Doppelhaushälfte in der Schwarzwurzelstraße 5. Seine Frau war platt, dass ihr Mann Wessis und dazu noch Reporter heim schleppte. Wir blieben bis in den Abend.
Dohm erzählte beim Kaffeekränzchen, dass er 1100 Ostmark netto im Monat verdiene. „Ick fahr’ aber nur, weil ick in meinem eijentlichen Beruf viel weniger bekäme. Ick bin nämlich jelernter Trabrennfahrer“, sagt er. An dem Sport hängt sein Herz. Doch da könnte er höchstens 800 Mark verdienen – als Spitzenfahrer, wie er früher einer gewesen sei. So knüppelte er in seinem Taxi die Zeit runter. Achteinhalb Stunden. „Wer det Soll nich packt, wird schon mal versetzt, zum Beispiel in die Lackiererei.“
Inzwischen war auf den Straßen der Teufel los. Am Fernseher in der Wohnstube der Dohms verfolgten wir auf einem Westkanal, dass die Grenzer die Massen an DDR-Bürgern, die in den Westteil der Stadt drängten, nicht mehr lange aufhalten konnten. Ich bat Peter Dohm, Jürgen Gebhardt und mich ins Hotel zu fahren. Ich musste meine Reportage schreiben. Beim Abschied vor dem Hotel Metropol verabredeten wir, uns am nächsten Morgen noch einmal zu treffen. Weil ich wissen wollte, wie er die dem Anschein nach unmittelbar bevorstehende Revolution erlebt hat.
Die legendäre Nacht vom 9. auf 10. November erlebten Dohm und seine Frau zunächst zuhause: „Wir saßen schon in Schlafanzügen vor dem Fernseher, als die Nachricht durchkam, dass die Grenzen offen sind. Dann jing allet zack-zack.“ Zusammen mit seinem Nachbarn Horst Kunde und dessen Frau sind sie in deren Trabi gesprungen und aufgeregt jubelnd in die Freiheit gebraust. Kunde sagte am Morgen danach noch völlig euphorisiert: „Wir fühlten uns wie die Präsidenten, als wir an der Bornholmer Straße die Grenze passierten und uns die West-Berliner zuklatschten.“ Und Dohm berichtete, als sie auf den Ku’damm kamen: „Det letzte Mal war ick vor 28 Jahren hier. Die Leute schleppten uns in eene Kneipe und gaben gleich Biere aus. Dat hat nur fünf Minuten gedauert, dann haben wir die Dinger jezischt. Bei uns drüben täten wir heute noch am Tresen stehen und uff det Bier waaten.“
Harald Kaiser.  Foto: Auto-Medienportal.Net/Harald Kaiser

Harald Kaiser. Foto: Auto-Medienportal.Net/Harald Kaiser

Um halb fünf morgens lagen sie schließlich in den Federn.
Bis zur Maueröffnung hatten bereits an die 120 seiner Kollegen in die Bundesrepublik „rübergemacht“. Seither fehlten Taxen an allen Ecken und Enden. Mit Stasi-Leuten am Steuer hatte der Staat versucht, die Lücken zu füllen. Ob er auch weg wolle? „Icke schon“, antwortete er, „aber mit meiner Frau jeht det nich. Sie is krank.“ Außerdem habe er eben die Doppelhaushälfte, die gut 100 000 Ost-Mark wert sei. Jeden freien Tag hat er daran geschuftet, renoviert, angebaut. Urlaub gab’s deswegen auf Jahre nicht mehr. Das Haus wolle er nicht ohne weiteres aufgeben.
Den Wolga fuhr Dohm damals erst seit einem knappen halben Jahr zusammen mit einem Kollegen. Schon nach wenigen Monaten hatte der russische Wagen 70 000 Kilometer runter. „Det Ding looft jut“, sagte er. Weil er lange hält, viel länger als ein Lada, Skoda oder Trabi. Deshalb wird der Wolga in der DDR „Eisenschwein“ genannt. Der Wagen wurde mit Butangas angetrieben. „So wat ist umweltfreundlicher und billjer, vastehn Se?“ Die Langlebigkeit resultierte auch aus dem auf Standfestigkeit getrimmten Motor, der bei 2,5 Litern Hubraum und nur 108 PS höchstens 140 km/h Spitze ermöglichte.
Fast alle Taxen waren in einem Volkseigenen Betrieb (VEB) organisiert. In Ost-Berlin waren es seinerzeit rund 700 staatliche, dazu kamen 200 privat betriebene. Von 6 Uhr bis 22 Uhr kostete der Kilometer einheitlich 80 Pfennig, von 22 Uhr bis 6 Uhr eine Mark. Plus 50 Pfennig Einstiegsgebühr pro Fahrgast. Für eine Fernfahrt musste eine Mark pro Kilometer bezahlt werden, Rückfahrt inklusive. Bei der Abrechnung gab es oft Probleme, weil die Taxameter nicht richtig funktionierten. „Det war typisch“, sagte Dohm, „die juten Sachen wurden ins Ausland verkooft, Werkzeug zum Beispiel, mit dem Schund mussten wir arbeeten. Der doofe Honecker hat uns zujrundejerichtet“, schimpft er und erinnert sich, dass er lange vor dem Mauerfall mal für 150 gesparte D-Mark Adidas-Turnschuhe in einem Ost-Berliner Spezialgeschäft für Westwaren gekauft hat. Bei dem Preis hat er lange überlegt, ob er sich das wirklich leisten soll. Denn dafür hätte er sich auch leckeres Essen mit Freunden leisten können: Räucheraal aus dem Westen zum Beispiel. Dohm: „Für een Kilo mussten wir allerdings 70 Westmärker hinlegen, det hältste im Kopp nich aus.“
Um die Erlebnisse mit Peter Dohm in der Nacht aufschreiben zu können, brauchte ich eine Schreibmaschine. Ich hatte absichtlich keine mitgenommen, weil ich glaubte, damit aufzufallen. Schließlich war ich offiziell Tourist und gab vor, Tennistrainer zu sein. Laptops gab es noch nicht. Also fragte ich an der Rezeption des Hotels nach einer Schreibmaschine. Wieder schaute ich mich um und glaubte erneut, von verschiedenen merkwürdigen Typen beobachtet zu werden. Die Dame hinterm Tresen griff in ein Fach, zog eine kleine Reiseschreibmaschine raus und gab sie mir mit den Worten: „Kein Problem, bitte sehr.“
Jetzt war ich mir sicher, gleich werden die Handschellen klicken. Doch wieder passierte nichts. Ich lief mit angstschweißfeuchten Achseln zum Aufzug und fuhr hoch in mein Zimmer. Dort schaltete ich den Fernseher ein und öffnete das Fenster ganz. Von unten drang ein unglaubliches Rumoren hoch. Sehen konnte ich nicht viel, weil mein Zimmer ungünstig lag. Doch dafür hatte ich ja die Fernsehbilder, die mir alles live zeigten. Ich legte meine Notizen auf den kleinen Schreibtisch bereit, öffnete den Schreibmaschinenkoffer, schaute zum Fernseher, zog ein Blatt Papier aus meiner Mappe, spannte die Seite ein und sah dazu kurz auf die Schreibmaschine. Anschließend ging mein Blick wieder hinüber zum Fernseher. Gleichzeitig begann ich mit einem Finger blind auf irgendeine Taste zu tippen und zählte die 37 Anschläge im Geiste für eine Textspalte ab.
Von unten war inzwischen ein gigantisches Gejohle zu hören. Gegen halb elf Uhr abends hatten die Grenzer die Schlagbäume hochgezogen und die DDR-Bürger schoben sich in Massen in den Westen. Während ich mit einem Finger immer noch tippte, schaute ich die ganze Zeit auf den Fernseher. Als ich schließlich die Spaltenbreite erreicht hatte und wieder auf das Papier sah, traute ich meinen Augen nicht: Ich sah kyrillische Buchstaben. Also, wieder runter an die Rezeption und nach einer Schreibmaschine mit deutscher Tastatur fragen. Gott sei Dank hatten sie eine.
Angesichts des Durcheinanders in der Nacht der friedlichen Revolution und des riesigen Glücksgefühls darüber, dass die Gefangennahme eines ganzen Volkes nun beendet war, habe ich nicht damit gerechnet, Peter Dohm am nächsten Morgen wieder zu sehen. Doch er kam. Ziemlich schlapp, müde und sicher auch mit einigen Promille im allgemeinen Freiheitsrausch, aber er war da. Ich fragte ihn, wo er denn neben dem Ku’damm und in diversen Kneipen im Westen noch gewesen sei. Mit einem Augenzwinkern gestand er auf Berlinerisch: „Ooch inne Peepschau.“

Text: ampnet/Harald Kaiser
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