Eine Ikone tritt ab: Bentley stellt die 6,75-Liter-Maschine ein
Es war eine lange Abschiedsrunde, doch jetzt hat Bentley endgültig den Stecker gezogen: Die Ära der berühmten 6,75-Liter-Maschine neigt sich unerbittlich ihrem Ende zu. Nach knapp 62 Jahren und 36.000 produzierten Einheiten werden jetzt die letzten Motoren der L-Serie in einer Sonderedition des Bentley Mulsanne verbaut. Die Sonderserie zeichnet sich durch allerhand Flitterwerk aus, darunter stilisierte Ventildeckel auf den Luftausströmern am Armaturenbrett.
Bei seinem Debüt im Jahre 1959 sollte die Maschine den
leistungsschwächeren Reihen-Sechszylinder ersetzen; seine Leistung wurde
mit dem Prädikat „genügend" angegeben. Heute ist Bentley
auskunftsfreudiger und gibt die damalige Leistung mit rund 180 PS an. In
der Folge wanderte die Maschine in die gesamte Modellpalette von
Rolls-Royce und Bentley.
Der ursprünglich 6,2 Liter große Motor wurde gegen Ende der 60er-Jahre
auf 6,8 Liter vergrößert – um exakt zu sein, 6,75 Liter. Im Jahre 1976
kommentiert die „Motor Revue" die fehlende Leistungsangabe nicht ohne
Ironie: „Vielleicht gibt es für diese Zurückhaltung noch andere Gründe
als vornehmes britisches Understatement“. Sie führten Messungen durch,
die im Rolls-Royce Silver Shadow I eine Leistungsausbeute von mageren
156 PS ergaben. Die Fahrleistungen: 0-100 km/h in 11,6 Sekunden, knapp
184 km/h Spitze. Dafür pendelte sich der Durchschnittsverbrauch oberhalb
von 25 Litern auf 100 Kilometer ein.
Fünf Jahre später testete das Magazin den Silver Spirit, noch mit
Vergaseranlage. Seine Leistung, offiziell noch immer als „genügend"
bezeichnet: 199 PS. „Diese Leistung ist für einen Rolls-Royce, dessen
nicht allzu hohe Fahrleistungen ohnehin selten in Anspruch genommen
werden, sicher genügend", kommentierte die „Motor Revue“.
Doch nur ein Jahr später erhob sich das Aggregat auf ein anderes Niveau:
Um Bentley stärker von Rolls-Royce abzuheben, verpassten ihm die
Entwickler einen Garrett-Turbolader. Die Motorleistung – „genügend plus
50 Prozent" – reichte aus, um den Mulsanne Turbo in sieben Sekunden von 0
auf 100 km/h und weiter auf eine Spitzengeschwindigkeit von fast 220
km/h zu treiben. Mit einem Mal war Bentley auch in Sachen Fahrdynamik
konkurrenzfähig.
Mit Derivaten wie dem Bentley Turbo R und RT, dem zweitürigen Coupé
Bentley Continental R and T sowie dem Cabriolet Bentley Azure wurde das
Potential sukzessive weiter entfesselt; die Leistung stieg
modellabhängig auf über 400, zuletzt sogar über 500 PS.
Dennoch waren die Aussichten für den klassischen Motor vor einem knappen
Vierteljahrhundert nicht rosig. Denn während die in sehr kleinen
Stückzahlen gebauten Zweitürer noch auf das 6,75-Liter-Aggregat setzten,
plante der neue Eigentümer BMW, die Kernmodelle der Marken mit völlig
neuentwickelten Motoren bajuwarischer Provenienz auszurüsten. Der
viertürige Rolls-Royce Silver Seraph erhielt einen 5,4-Liter-V12,
während das Schwestermodell Bentley Arnage mit einem 4,4-Liter-V8-Turbo
ausgerüstet wurde.
Doch es sollte noch einmal anders kommen: Im Rahmen des für
Traditionalisten einigermaßen schockierenden Kampfes zwischen Volkswagen
und BMW um die Kronjuwelen der britischen Autoindustrie verblieb
Rolls-Royce bei BMW, während Bentley zu VW wanderte. Und die Wolfsburger
hatten kein Interesse daran, langfristig Motoren aus München zu
beziehen.
Und so landete die bereits ausgesonderte Maschine der L-Serie wieder auf
den Zeichenbrettern der Motorkonstrukteure. Während Rolls-Royce beim
BMW-V12 blieb, der im Phantom später auf den klassischen Hubraum
anwachsen sollte, bot Bentley den Arnage bald wieder mit dem klassischen
Motor an, und zwar unter der Bezeichnung „Red Label". Dass der BMW-V8
noch eine Weile parallel als „Green Label" angeboten wurde, darf man als
besondere Boshaftigkeit des Piëch-Konzerns interpretieren: Die
Verkaufszahlen für das Bayern-Aggregat stürzten ins Bodenlose.
Den letzten Technologiesprung erlebte die L-Serie 2009 mit der
Einführung des Spitzenmodells Mulsanne. Mit 513 PS und 1020 Newtonmeter
(Nm) Drehmoment lieferte der Motor nach Auskunft der Marke jene
„mühelose Drehmomentwelle, für die Bentley berühmt ist“. Und Ende 2014
wurde noch eine Variante mit 530 PS und 1100 Nm Drehmoment nachgelegt,
mit der der Zweieinhalbtonner eine Spitze von 305 km/h erreichte.
Aber die Tage des Motors waren längst gezählt, nicht zuletzt weil die
etwas kompakteren Modelle der Continental-Serie mit W12-Motoren
ausgerüstet sind. War China schuld? „In unseren neuen Märkten fragen
sich die Kunden, warum die Modellpalette nach oben mit einem V8-Motor
abschließt", verriet Markenchef Wolfgang Dürheimer vor einigen Jahren.
Und kündigte an: „Dieser Motor wird mit dem existierenden Mulsanne seine
finale Heimat finden. Danach soll auch unser Flaggschiff einen
Zwölfzylinder-Motor bekommen." Tatsache ist allerdings auch, dass es
erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde, den klassischen V8 für die
kommende Euro-7-Abgasnorm zu ertüchtigen.
Über seine Laufzeit hinweg wurde der einzigartige Motor in den
Rolls-Royce-Typen Silver Cloud, Phantom V und VI, Silver Shadow, Silver
Spirit, Silver Spur, Corniche und Camargue verbaut; bei Bentley kam er
im S2 und S3, in der T-Serie, den beiden Mulsanne-Generationen und ihren
Derivaten sowie dem Azure, Continental R/T/S und Brooklands zum
Einsatz.
Mit seinem niedrigtourigen Charakter und seinem gewaltigen Drehmoment
wirkte das Aluminium-Aggregat wie eine Dampfmaschine. Jetzt geht der
dienstälteste V8-Motor der Welt in den verdienten Ruhestand.
Text: ampnet/jm
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